Homeschooling bei Kindern mit AD(H)S - Risiko oder Chance?
Deutschland ist im “Lockdown Light”. Und auch, wenn Schulen vorerst weiter geöffnet bleiben und Schüler*innen in Präsenz unterrichtet werden, sind die Erlebnisse der Homeschooling-Phasen vielen noch präsent. In diesem Blogpost wollen wir uns damit auseinandersetzen, welche möglichen Chancen und Risken digitale Lern- und Lehrformate für Kinder mit AD(H)S haben.
In der Schule lernen Kinder nicht nur inhaltliches Wissen und Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben, sondern erleben die Sozialisierung mit Gleichaltrigen, bilden soziale und kommunikative Kompetenzen und erfahren eine Persönlichkeitsentwicklung außerhalb des familiären Umfelds. Die COVID-19 Pandemie verändert jedoch nachhaltig den Alltag zahlreicher Schüler*innen. Homeschooling, digitaler Unterricht und andere Konzepte mussten seit März 2020 - teilweise im Hauruck-Verfahren - umgesetzt werden. Und obwohl das Schuljahr 2020/2021 beinahe in ganz Deutschland wieder im normalen Präsenzunterricht mit vollen Klassen begonnen wurde, wird derzeit aufgrund steigender Infektionszahlen und erneutem Lockdown über Alternativen nachgedacht. Viele Eltern, die neben der Tätigkeit im Homeoffice auch die Aufgaben von Lehrer*innen für die Kinder daheim übernehmen mussten, werden dadurch erneut vor eine Doppelbelastung gestellt. Und Lehrer*innen, für die der tägliche Kontakt mit den Kindern wichtig ist, um deren Entwicklung zu beurteilen, verlieren durch digitale Formate wichtige Informationsmodalitäten. Vielen Kindern fällt es nicht leicht, sich mit den neuen Lernformen zu arrangieren. Expert*innen warnen besonders davor, dass Kinder, die zuhause keinen optimalen Lernbedingungen vorfinden oder von Erkrankungen wie AD(H)S betroffen sind, möglicherweise in einem digitalen Setting den Anschluss verlieren.
AD(H)S bezeichnet eine bereits im Kindesalter auftretende Erkrankung mit Symptomen der Unaufmerksamkeit, Impulsivität und ggf. Hyperaktivität, die situationsübergreifend überaus stark auftreten und erheblichen Leidensdruck verursachen. AD(H)S ist auch mit funktionellen Beeinträchtigungen, in Schule und Ausbildung assoziiert. Internationale Erhebungen gehen davon aus, dass etwa 5.3% der Kinder von AD(H)S betroffen sind. Damit stellt AD(H)S eine der häufigsten Erkrankungen im Kindes-und Jugendalter dar.
Wir sprechen mit Herrn Stephan Kolbe, Diplom-Psychologe und Experte für AD(H)S über die Risiken und Chancen, die digitale Lehr- und Lernformate für Kinder mit der Diagnose AD(H)S bieten.
Herr Kolbe, wie bewerten Sie digitale Lernformate spezifisch in Bezug auf Kinder mit AD(H)S?
Das ist pauschal gar nicht so einfach zu sagen und hängt vor allem auch davon ab, wie ausgeprägt sich die Erkrankung individuell darstellt.
Bei Kindern mit einem leichten AD(H)S ist ein digitales Lernformat durchaus möglich und kann- unter der Voraussetzungen, die für alle Kinder gilt, nämlich dass es zuhause begleitet wird - sinnvoll und durchaus positiv sein. So kann auch in einem digitalen Umfeld ein Lernen stattfinden. Durch die fehlende Ablenkung im Klassenraum und die gefühlte eins zu eins Situation kann sich in dieser Gruppe das Lernen sogar positiv entwickeln.
Ist das AD(H)S allerdings stark ausgeprägt und möglicherweise auch ein Elternteil von der Erkrankung betroffen - was bei hoher genetischer Prävalenz der Erkrankung nicht ungewöhnlich ist (Anm. d. Redaktion) - dann wird ein Lernzuwachs eher nicht möglich sein. Das liegt oftmals gar nicht am Lernen selbst, sondern in der Organisation der Lernumgebung und an Dingen wie pünktliche Anwesenheit im Chat, Vorhalten aller notwendigen Materialien, Strukturierung der Situation durch ein Elternteil und ähnlichem. Diese Gruppe ist dann massiv durch diese Lernsituation benachteiligt, die im Präsenzunterricht durch pädagogische Fachkräfte anders gestaltet werden könnten. Hier sind eher Stagnation oder sogar inhaltlicher Rückschritt zu erwarten, da das feste Setting, der gleiche Ablauf und notwendige (Lern-) Rituale nicht aufrechterhalten werden können.
Was ist für Kinder mit AD(H)S besonders herausfordernd an Homeschooling?
Kindern mit AD(H)S fehlt es im Homeschooling an Unterstützung. Sie sind mit einer hochkomplexen Situation konfrontiert, die sie oft mit wenig oder sogar ganz ohne Hilfe bewältigt müssen. Alleine das Einrichten der digitalen Lernsituation mit den notwendigen Materialien ist für Kinder mit AD(H)S eine Herausforderung. Dazu kommen dann fehlendes Feedback und oftmals auch fehlende Unterstützung in der Umsetzung zuhause.Zum einen sind viele Eltern selbst von einer AD(H)S oder von subklinischen Symptomen betroffen, ich beobachte das in etwa 40-50% der Familien mit denen ich arbeite, und können deshalb die notwendigen Hilfestellungen nicht leisten.
Was kann man als Elternteil spezifisch tun, um Kinder mit AD(H)S zu unterstützen?
Hier sind zunächst die gleichen Schritte empfehlenswert, wie auch bei gesunden Kindern in der digitalen Lernumgebung. Also die tägliche Struktur und die Uhrzeiten möglichst stabil beibehalten. Rituale und Abläufe übernehmen oder gestalten und beibehalten. Das Kind immer wieder ermutigen und unterstützen. Die Arbeit des Kindes begleiten und auf regelmäßige Pausen achten - gerade bei Kindern mit AD(H)S ist aus meiner Erfahrung empfehlenswert, alle 20-35 min Pausen von 5 min einzulegen. Ist man als Elternteil selbst von AD(H)S betroffen, dann könnte man diese Aufgabe innerhalb der Familie möglicherweise weitergeben oder auch die Situationen sehr kleinschrittig für das Kind - und auch für sich - vorstrukturieren. Ich empfehle Eltern auch, sich mit anderen Familien auszutauschen, die ebenfalls Kinder mit AD(H)S haben: es ist ja nicht nur das Lernen, was in Lockdown Zeiten in der Familie aufgefangen werden muss, auch die soziale Entwicklung, Spielen, Toben und Freizeitaktivitäten müssen im häuslichen Rahmen organisiert werden.
Welche weiteren therapeutischen Optionen sind bei AD(H)S aus Ihrer Erfahrung empfehlenswert und auch in Zeiten der Pandemie umsetzbar?
Aus meiner Erfahrung ist das Elterntraining, ein strukturiertes und psychoedukatives Training an dem mindestens vier Familien über 8-10 Termine teilnehmen, das stärkste und nachhaltigste Element in der Therapie, eben weil AD(H)S oft vererbt ist und deshalb viele Eltern - auch unwissentlich Probleme mit fehlender Strukturierung, Unaufmerksamkeit oder impulsiven Verhalten haben, auch wenn es sich anders äußert als im kindlichen Verhalten. Hier ist Verständnis, Selbsterkenntnis ein wichtiger Schritt in der Therapie der Familie und oft sehr wirksam für das betroffene Kind.
Darüber hinaus halte ich Neurofeedback für eine sehr empfehlenswerte Methode. Ich und auch viele Kolleg*innen konnten dies auch in Zeiten der Pandemie weiterführen, da nötige Abstände und Hygienemaßnahmen gut eingehalten werden können. Mit Neurofeedback lernen die Kinder, ihre Aufmerksamkeit, Konzentration und Impulskontrolle so zu optimieren, dass die Selbststeuerung zunehmend beherrscht und Hyperaktivität deutlich reduziert wird. Weil im Rahmen von Neurofeedback spannende Computerspiele als Feedback genutzt werden, ist es für die Kinder auch spannend und kurzweilig - wenn Lernen und Therapie digital stattfinden, ist es von Vorteil, wenn sie sich zumindest in der Ausgestaltung unterscheiden. Auch für betroffene Eltern ist Neurofeedback eine sinnvolle Möglichkeit, um zu trainieren, die eigene Regulation besser zu kontrollieren und dem Kind mehr Struktur zu bieten. Ergänzend kann ich - wenn für das Kind und in der Situation möglich - strukturiertes Konzentrationstraining und Übungen zur Stärkung von Körpergefühl und -wahrnehmung empfehlen. Für optimale ganzheitliche therapeutische Optionen kann auch ein umfänglicher Allergietest - da Kinder mit AD(H)S zu über 50% mit starken Allergien zu kämpfen haben -, eine begleitete Überprüfung der Mediennutzung und der Ernährung nützlich sein.
Stephan Kolbe ist Diplom-Psychologe und bietet in seinen “fit4school” Praxen Diagnostik und Therapie bei mit Kindern mit AD(H)S, LRS, Hochbegabung und Dyskalkulie an und arbeitet seit vielen Jahren mit Neurofeedback. Mehr über Stephan Kolbe finden Sie auf seinem Dozentenprofil.
Das Interview wurde geführt von Jennifer Riederle, Psychologin bei BEE Medic.